#52
Beitrag
von Max1975 » 2021-10-17 15:22:20
Hallo,
hier wurde schon sehr viel Gutes und Richtiges erwähnt, und ich finde diese Diskussion sehr spannend. Danke an den Themenstarter.
Ich bin kein Langzeit-Reise-Experte und kein professioneller Overlander. Deshalb kann ich vielleicht (noch) nicht so ganz mitreden hier. Wir waren 2019 'nur' für 3 Monate in Baltikum, Russland und Skandinavien unterwegs, und eben doch mit einem gewissen Zeitdruck nach den 3 Monaten in den Job und das Alltagsleben zurück kehren zu müssen/dürfen (ist halt ein Luxusproblem, wenn der Job auf einen wartet). Ich glaube, für uns beide war es das 'Müssen', das uns auf der Reise nicht immer ganz zur Ruhe hat kommen lassen - wir hatten ja noch lange nicht allles gesehen! Von Langeweile also keine Spur. Wir wollten nicht heimkehren. Nicht mal Freunde und Familie konnten uns zurück locken. Wir hätten sicher auch 6 Monate, oder vielleicht ein Jahr auf der Strasse verbringen können. Aber wir 'mussten' heim.
Hätten wir keinen Zeitdruck gehabt, keine Erwartungen der Kollegen und Chefs irgendwann mal wieder im Büro aufzutauchen, keine Erwartungen der Familie, die Neuzugänge zu bestaunen - hätten wir uns dann mehr Zeit gelassen und das Reisen an sich mehr genossen? Ich glaube schon. Wir haben es nämlich auch so schon genossen, und ich denke, das hat sehr viel mit unserer geplanten Planlosigkeit zu tun - ich versuche mal das zu erklären:
Als wir los fuhren, hatten wir nur gewisse Eckdaten, zu denen wir ungefähr an gewissen Orten sein mussten: das Visum für Russland für den August schrieb uns vor, dass wir nicht vorher einreisen, und spätestens bis Ende August das Land wieder verlassen mussten. Am 16. Oktober mussten wir beide wieder arbeiten gehen. Dazwischen hatten wir keine Pläne. Wir hatten nur eine Liste an Orten, die uns interessiert hätten; Dinge die wir sehen wollten, aber nicht mussten.
Die Eckdaten werden einem halt durch äussere Umstände aufgezwängt, das wird auf einer längeren Reise auch nicht anders sein (Fährtickets, befristet gültige Visa, Verabredungen mit Freunden, saisonale/klimatische Bedingungen, etc). Und wie plant man die Planlosigkeit? Naja, wir haben uns einfach jeden Morgen, meist beim Frühstück, überlegt, was wir heute sehen oder machen wollen (Museum, Wandern, Baden, Faul sein, und all die anderen Aktivitäten, die hier schon aufgelistet wurden). Aber nicht mehr als heute. Morgen war immer ein neuer Tag. Erst wenn einer der Ecktermine näher rückte, machten wir uns zumindest Gedanken, wieviele Kilometer wir zu fahren hätten, um dort anzukommen, und in wievielen Tagen wir das gemütlich machen konnten. Der Spruch vom 'Reisen ist nicht Flüchten' wird ja viel zitiert hier.
Sich Zeit nehmen ist wichtiger, als alles gesehen zu haben.
Alles sehen zu wollen verursacht einen ungeheuren Druck auf sich selbst. Aber immerhin ist diese Reise ein One-off, ein einmaliges Erlebnis. In unserem kurzen Leben womöglich die einzige Chance, überhaupt in die Nähe dieser Sehenswürdigkeit zu kommen. Und sich dann dieses Highlight entgehen lassen? Also hetzen wir von Highlight zu Highlight, hier noch ein Weltkulturerbe zu bestaunen, da noch ein kulturell wichtiges Museum. Wer kann schon sagen, er hätte wilde Belugawale gesehen?
Hmm, wir nicht. Wir haben uns die Wale entgehen lassen. Das tiefste Bohrloch der Welt auch. Aber wir haben uns Zeit gelassen, Kontakte zu knüpfen. Wir trafen zwei Einzelreisende. Beide hatten Highlights gesehen, die wir auslassen mussten. Und wir hatten Orte besucht, zu denen sie nicht mehr kamen. Wenn man andere Reisende trifft, muss man natürlich Erfahrungen, Bilder, Geheimtipps und Kontaktdaten austauschen. Ich finde es sehr spannend, den ehrlich begeisterten Ausführungen des Erlebten eines anderen Reisenden zu lauschen. Vielleicht habe ich als Bub zu viele Abenteuerromane gelesen. Wir hatten auch viel Kontakt mit Einheimischen. Selbst wenn man die Sprache nicht kann, gibt es immer einen Weg miteinander zu kommunizieren. Auf der Kola kam uns ein UAZ Buhanka entgegen, mit Kuhfänger, Seilwinde, fast so grossen Rädern wie unsere, LED Leuchten überall, eben ein waschechter russischer Offroader. Sein fettes Grinsen und den erhobenen Daumen, auf unser Auto zeigend, werde ich nicht vergessen. Natürlich gaben wir ihm das Kompliment zurück! Fenster runtergerollt, er hiess Alexej und wollte wissen, wo wir hin fahren. Mit meinen 8 Wörtern russisch meinte ich das zu verstehen. Also antwortete ich mit dem Namen unseres Ziels. Er sagte irgendetwas mit 'Problem' in der Mitte des Satzes, aber es klang für mich nach 'ihr werdet keine Probleme haben auf dieser Strecke'. Es klang beruhigend. Wir hatten dann auch keine Probleme. Übrigens, die Locals haben die besten Geheimtipps!
Aber genug Geschwafel. Was hat all das jetzt mit Reiselangeweile zu tun? Bei uns ist die noch nicht aufgekommen. Vielleicht passiert uns das irgendwann. In ferner Zukunft, wenn wir länger unterwegs sein können. Ich kann mir das schon vorstellen. Unsere Art zu Reisen, also mit Sack und Pack im Truck und 'over land' ist kein Urlaub. Es ist ein anderer Lebensstil. Den muss man auch erst mal für sich finden. Bis man das tut, kann sich schon mal Reisestress einstellen. Die Jagd nach immer neuen Abenteuern kann schnell in Arbeit ausarten. Und plötzlich sehnt man sich zurück nach diesem eigentlich ruhigem, überschaubarem Bürojob. Ich kann das verstehen. Wer nun länger verreist war, und sich wieder mehr 'Normalität' wünscht, und 'Leistung bringen', der kann ja einen neuen Lebensstil für sich finden. Bewiesen hat man es sich ja schon, das man es kann.
Gruss, Max
Bucher DURO 4x4 'Bruce'