Servus zusammen,
ich lebe ja jetzt seit 18 Jahren mehr oder weniger ständig in Ländern des Aufbruchs (Indonesien, China, Bangladesh) und die Kluft zwischen Arm und Reich ist in allen Ländern gewaltig. Wenn man sich mit den dortigen Wirtschaftsführern (Firmenbesitzern, Politikern, Consultants, etc) unterhält - und dazu hatte ich schon öfters die Gelegenheit - kommt schnell heraus, dass den Meisten der wohlhabenden und führenden Klasse eines Landes sehr klar ist, dass der soziale Sprengstoff innerhalb des Landes in der stark unterschiedlichen Einkommensstruktur und aus den deutlich verzerrten Chancen zur Arbeit / Ausbildung / Infrastruktur / Konsum / Gesundheitswesen etc kommt. Man sollte nicht so dumm und populistisch sein und meinen, dass zB alle Firmeninhaber nur Raffzähne und Ausbeuter seien. Das wird gerne in unseren Medien so dargestellt und es gibt natürlich auch genügend schwarze Schafe die es immer wieder ins deutsche Fernsehen und die Recherche-Zeitschriften schaffen.
Aber es gibt eben auch viele, viele andere:
- Fabrikbesitzer, die zB Kindergärten für ihre Mitarbeiter bauen
- Lokalpolitiker, die zB Gemeinschaftsküchen für Arme, Kranke und Alte bauen
- Mitarbeiter, die in die Entscheidungsprozesse einer Fabrik einbezogen werden
- unbürokratisches Gesundheitswesen und hohe Solidarität gegenüber Armen
etc
Interessant ist auch, dass die meisten gewaltsamen Demonstrationen und Auseinandersetzungen zwischen 'Arm' und 'Staatsmacht' bezahlte Auseinandersetzungen sind - habe ich nun schon mehrfach zB in Indonesien und nun auch in Bangladesh erlebt. Die Demonstranten bekommen zB von der Oppositionspartei einen Taschengeld, eine Lunchbox, eine Packung Zigaretten, eine Wasserflasche und den Auftrag, hier, da oder dort ein wenig medienwirksame Randale zu machen - dient ja 'der guten Sache'. Die überwiegend jungen und meist auch arbeitslosen Männer machen das natürlich gerne - ein bezahltes Ventil zum Dampfablassen.
Und die Sicherheitskräfte bekommen im Umkehrschluss eine Kopfprämie für Verhaftungen
Darunter leiden tut die normale Bevölkerung, vor deren Tür die orchestrierte Randale veranstaltet wird - und deren Autos, Busse, Rickshaws und Fensterscheiben zu Bruch gehen.
Wer schon mal in Slums und bei der sogenannten armen Bevölkerung in einem Schwellenland unterwegs war, weiss, dass es dort sicher nicht komplett recht- und ordnungslos zugeht. Es gibt in den meisten Dörfern, Wohnvierteln und Hüttenansammlungen - wo eben die rechtmässige Regierung versagt - idR eine Schattenregierung und lokal organisierte Strukturen - egal ob es zB um Essensversorgung, Abfallbeseitigung, Krankenversorgung, Rechtsprechung, etc geht. Der Mensch per se kann durchaus human sein. Und allen Menschen ist gemein, dass sie ein Streben nach Sicherheit, Frieden, ausreichend Nahrung, Arbeit, Familie, Freude, Freiheit und Anerkennung haben. Von daher glaube ich einfach nicht, dass sofort alles in Anarchie und Chaos versinkt, nur weil ein paar Regierungen zusammenbrechen oder sich überlebt haben.
Die meisten Schwellenländer haben ihre Geburtswehen und Probleme, sicher bieten Länder im Um- und Aufbruch viele Chancen und Möglichkeiten sowie Freiräume für Korruption und Willkür - aber ich denke, dass den meisten Menschen ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden inne ist und nicht alle nur Randale, Gewalt und Anarchie im Kopf haben.
Viele Grüsse aus Dhaka
Jürgen